"Mögen die Ewigen deinen Tag vergolden ..."
Sei begrüßt im Ägypten des 12. Jahrunderts v. Chr.
"Die kundige und einfühlsame Schilderung der altägyptischen Lebenswelt lässt und die Ereignisse um die sogenannte Haremsverschwörung gegen Ramses III. in einer Weise erleben, als seien wir selbst dabeigewesen!" Prof. Dr. R. Schulz, The Walters Art Museum, Baltimore
Achtaj, die Dienerin der Königlichen Nebenfrau Tija erkennt, dass die Menschen, an denen ihr Herz hängt, sich einer furchtbaren Verschwärung angeschlossen haben,
die nur ein Ziel verfolgt: den Tod des Pharao.
Ist auch der junge Heiler Cheru-ef, zu dem Achtaj sich hingezogen fühlt, an all dem Bösen beteiligt? Wie kann sie sich gegen den Hass der schönen Verschwörerin Henut wehren, die
ihre Vernichtung plant? Was bedeutet das Verschwinden ihres Vaters? Wie kann sie Nedjemet schützen, das Mädchen, das zuviel weiß?
Cheru-ef, Truppenarzt im Dienste des Heerführers Paiis, sieht sich vor schwere Entscheidungen gestellt. Darf man ein hehres Ziel mit Mitteln verfolgen, die an Bösartigkeit kaum zu
überbieten sind? Verrat, Folter, schwarze Magie, - das Zweifache Land stürzt in eine Katastrophe nie gekannten Ausmaßes!
Der Roman zeichnet die düsteren Ereignisse nach, die als Haremschwörung gegen Ramses III. in die Geschichte eingegangen sind. Der Leser taucht förmlich ein in diese entfernte Epoche,
denn die farbige Schilderung der Lebensumstände und Denkmuster in einer der damaligen Zeit entsprechenden Sprache erwecken das Alte Ägypten zu neuem Leben.
Am Morgen, der auf das unselige Fest des Gottes Min folgte, lastete über ganz Djamet eine Stimmung von Angst und Bedrückung. In den Gängen des Großen Hauses herrschte ungewöhnliche Stille, die Höflinge unterhielten sich nicht mehr. Gab es Worte zu tauschen, geschah dies in kaum hörbarem Flüsterton, als wolle man das Grauen nicht noch verstärken, indem man es beim Namen nannte. Die Ewigen hatten dem Geliebten Land ihr Wohlwollen entzogen, denn wie war die Reihe von furchtbaren Ereignissen anders zu erklären? Prinz Meriamun war tot, doch allen erschien es noch Furcht erregender, dass seine Mutter Iset nicht zu schreien aufgehört hatte. Über Stunden waren die gespenstisch wehklagenden Laute im Palast zu hören gewesen, bis endlich der Thronfolger seine Scheu überwunden und Mesdjer gebeten hatte, seiner Mutter einen schweren Schlaftrunk zu verabreichen. Seitdem wurde Königin Iset in fortwährender Bewusstlosigkeit gehalten, denn immer, wenn sie zu sich kam, fuhr sie zu schreien fort.
Achtaj ging in ihrem noch immer fest verriegelten Zimmer unruhig auf und ab. Warum kam niemand, ihr Nachricht oder wenigstens etwas zu essen zu bringen? Wo blieb Nedjemet? Warum ließ sich Sobek nicht blicken? War ihm etwas zugestoßen? Warum war es überhaupt so still? Längst hätte sie die schwatzenden Stimmen der Schreibschüler vernehmen müssen, das Schnattern der Dienerinnen und die mahnenden Rufe der Lehrer und Schreibstubenvorsteher. Unwillkürlich fiel ihr ein Spiel ein, das sie als Kind mit anderen der Cheredu ni Kap gespielt hatte. Sie hatten sich vorgestellt, ganz allein auf der Welt zu sein und erkennen zu müssen, dass man sich das ganze Leben nur vorgestellt hatte, dass alles, was das Geliebte Land ausmachte, lediglich das Ergebnis der eigenen Einbildungskraft sei. Sie erinnerte sich genau daran, wie sehr sie den damit verbundenen Schauder genossen hatte. Die Wirklichkeit war jedoch immer verlässlich vorhanden gewesen. Auch in diesem Augenblick wusste sie um die Sicherheit des Daseins, dennoch wuchs eine dumpfe Furcht in ihrem Inneren, die sie sich nicht zu erklären vermochte.
Langsam ging sie zu den schmalen Mauerdurchbrüchen hinüber, die an der Westwand des Raumes als Fenster dienten. Noch waren die Strahlen der Sonne nicht an den gegenüberliegenden Palastmauern zu sehen, alles war noch grau und düster.
„Sobek!“ rief sie. „Wo bist du? Ist hier niemand? Kann mich keiner hören?“
Keine Antwort.
Wieder nahm sie den unruhigen Gang durch den Raum auf. Irgendwann würde jemand kommen, beruhigte sie sich selbst, alles würde sich aufklären.
Es dauerte aber noch eine für Achtaj unbegreiflich lange Zeit, bis sie Geräusche vor der Tür vernahm.
„Sobek!“ rief sie erleichtert aus. „Endlich bist du da!“
Doch es war nicht Sobek, der im Türrahmen erschien. Ein ihr vollständig fremder Mann stand da, gekleidet in die Tracht der Medjau.
„Schweig!“ zischte er mit allen Anzeichen des Entsetzens. „Bist du wahnsinnig geworden? Willst du alle auf dich aufmerksam machen?“
Achtaj verstummte erschreckt und musterte den Ankömmling. Er hatte ein breites Gesicht mit vollen Lippen. Die Mundwinkel waren in Anspannung nach unten gezogen, und die schwarzen Augen unter buschigen Brauen blickten finster. „Wer bist du?“ fragte sie im Flüsterton. „Wer hat dich zu mir geschickt?“
Der andere schüttelte nur den Kopf und legte den Zeigefinger auf die Lippen. Mit einer Kopfbewegung bedeutete er ihr, ihm zu folgen.
Achtaj zögerte. Was ging hier vor? „Kommst du von Sobek, dem Schreiber?“ verlangte sie zu wissen. „Weshalb sollte ich mit dir gehen?“
„Weil ich annehme, dass du am Leben bleiben willst!“ versetzte der Besucher kühl. „Für weitere Erklärungen ist keine Zeit.“
Mit einem Mal waren entfernte Geräusche zu hören. Irgendwoher aus den Tiefen des Verwaltungsgebäudes näherten sich Menschen.
„Rasch! Rasch!“ drängte der Fremde. „Du musst mir vertrauen! Sonst bist du in wenigen Augenblicken tot!“ Er drehte sich um und eilte den Korridor entlang.
Der Ernst in seiner Stimme hatte ihre Bedenken fortgewischt, und Achtaj stürzte hinter ihm her, ohne sich noch ein einziges Mal umzuschauen. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit ausschließlich auf den Mann, der sie geholt hatte und vermied es, irgendjemanden anzusehen, der ihnen auf der Flucht durch die Schreibstuben begegnete. Zu ihrer Erleichterung waren es nicht viele, und die, welche ihre Plätze auf den Matten eingenommen hatten, schenkten ihr keine Beachtung. Obwohl es ihr vor Verwirrung in den Ohren brauste, merkte sie spätestens in den Fluren des Frauenhauses, dass ein neues Unglück geschehen sein musste.
„Heute morgen …!“ schnappte sie auf, als sie an Iniut vorüberhastete, die mit einer anderen Bewohnerin sprach. „Sie muss schon seit Stunden …“ Doch mehr hörte sie nicht.
„Achtaj!“ rief eine andere, die sie erkannt hatte. „Bist du wieder frei? Weißt du etwas Genaueres über …?“
„Ich kann im Augenblick nicht!“ rief Achtaj zurück und schon war sie vorüber.
„Die Kehle … einfach so!“ hörte sie noch, dann näherten sie sich der Empfangshalle des Frauenhauses. Gleich darauf durchquerten sie den großen Raum. Stimmen sprachen durcheinander; hier hielten sich mehrere Frauen auf.
„Halt!“ Die Stimme des Fremden war kaum hörbar, doch in ihr schwang solche Dringlichkeit, dass Achtaj sofort stehen blieb. „Du gehst langsam neben mir. Ich schirme dich ab! Verbirg dein Gesicht!“ Er legte den Arm um ihre Hüfte, als müsse er sie stützen, während Achtaj mit zitternden Fingern ihren Schal übers Gesicht zog.
Sie hatten die Halle schon fast vollständig hinter sich gelassen, als eine wohlvertraute Stimme scharf wie ein Messer die Luft zerschnitt. „He, du dort! Wer bist du? Wen führst du hier hinaus?“
Henut! Das war unverkennbar die Stimme ihrer Todfeindin. Achtaj blieb beinahe das Herz stehen. Jetzt gab es kein Entrinnen mehr.
„Lauf! Durch die Seitentür!“ Achtaj erhielt einen Fauststoß in den Rücken, der sie beinahe zu Fall gebracht hätte. Sie schlüpfte durch die Tür und rannte weiter. Mit halben Ohr vernahm sie die Worte des Medja: „Eine Kranke, Herrin! Komm bitte nicht näher! Ich fürchte, sie hat den Aussatz!“ Die darauf folgenden Entsetzensrufe hörte sie schon nicht mehr.
Als sie durch die Tür nach draußen trat, fand sie sich vor einem zweirädrigen Karren wieder, an den ein Esel geschirrt war.
„Hinauf mit dir!“ Der Medja war wieder neben ihr. „Wir dürfen keine Zeit verlieren. Meine Lüge hält sie nur eine begrenzte Zeit auf.“ Er schwang sich vor ihr auf den Karren und nahm die Zügel in die Hand. „Beeile dich!“ Er griff nach ihrem Arm und zerrte sie grob auf die Ladefläche.
Der Mann schnalzte mit der Zunge, klatschte dem Esel leicht mit dem Zügel auf die Kruppe, und das Gefährt setzte sich in Bewegung. Viel zu langsam, fand Achtaj, die wie gelähmt auf die Tür starrte, die kleiner zu werden schien, je größer die Entfernung wurde.
Dann öffnete sich die Tür.
„Schneller!“ brachte sie gequält hervor. „Schneller!“ Der Medja riß eine Peitsche aus seinem Gürtel und ließ sie knallen. Der Esel schrie erschrocken und beschleunigte seine Gangart.
Achtaj bedeckte ihre untere Gesichtshälfte und kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Sie zählte drei Frauen vor der Tür, Henut war eine davon, die ihre Blicke unverwandt auf sie gerichtet hielten. „Du siehst mich nicht“, murmelte sie wieder und wieder. „Ich bin in den Tiefen des verborgenen Raumes, du siehst mich nicht.“ Sicher war sie sich jedoch nicht, ob ihre Beschwörung den gewünschten Erfolg zeitigte, denn der Hass in der Miene Henuts war auch über die Entfernung unverkennbar.
„Werden sie Verfolger aussenden?“ fragte sie nach einer Weile.
„Das vermute ich“, antwortete der Medja. „Viel Zeit hast du nicht.“
„Bist du nun bereit, mich aufzuklären? Weshalb bin ich in Gefahr? Wer hat dich geschickt, mich zu retten?“
„Von mir erfährst du nichts!“ erwiderte der Mann kurz und unfreundlich.
„Warum nicht?“ brach es aus Achtaj hervor. „Es scheint, als sei ich in Lebensgefahr, du rettest mich und sagst mir überhaupt nichts? Das kann doch nicht sein! Du musst …“
„Wenn du nicht augenblicklich aufhörst zu zetern“, unterbrach der Medja ungeduldig, „dann werfe ich dich vom Wagen, und du kannst sehen, wo du bleibst. Halte den Mund und tu, was ich dir sage!“
Achtaj biss sich auf die Lippen. Das war deutlich. Mit Aufbäumen würde sie nichts erreichen. Sie versuchte, sich zu beruhigen. Immerhin war klar, dass ihr der Mann nichts Böses wollte. Er hatte sie vor einer Gefahr gerettet, von deren Vorhandensein sie nicht einmal etwas geahnt hatte. Vielleicht war er von Sobek geschickt worden, oder von Nedjemet. Vielleicht hatte sogar Cheru-ef seine Hände im Spiel gehabt. Sie seufzte und rieb beklommen die Handflächen aneinander. Es blieb vorerst nichts anderes übrig, als sich zu fügen in der Hoffnung, bald mehr über die Hintergründe dieses Morgens zu erfahren.
Der Karren holperte über die schmalen Wege, welche die Kanäle säumten. Allenthalben begann das morgendliche Leben in den Dörfern und Tempeln. Die Landleute schleppten ihre Gaben vor die Tore der Gotteshäuser, aus denen die ersten Gesänge erklangen, Frauen sammelten sich vor den Brunnen, um Wasser zu schöpfen, Kinder riefen, und in das Hundegebell mischte sich das Zwitschern der Vögel. Alles ist, wie es immer ist, dachte Achtaj. Dass ihr eigenes Leben bedroht sein sollte, wirkte angesichts der vertrauten und gewöhnlichen Bilder völlig widersinnig und kaum vorstellbar.
Die Fähre zur Oststadt von Waset hatte gerade abgelegt, als der kleine Karren an der Lände ankam. Demzufolge waren wenige Menschen zu sehen, obwohl die Buden und Verkaufsstände um die Anlegestelle bereits geöffnet hatten und die Waren ausgebreitet in der Morgensonne lagen. Vor dem Wechseltisch, an dem mitgebrachte Waren in anderes, gängigeres Bezahlgut, wie Getreidesäcke in Einheitsgröße oder Sandalen, getauscht werden konnten, hatte sich der mit dieser Aufgabe betraute Beamte der Stadtverwaltung gerade zu einem Nickerchen auf einer Matte zusammengerollt.
„Ist es nicht gefährlich, auf die Fähre zu warten?“ fragte Achtaj leise. „Wenn sie nun doch Verfolger …“
„Wir warten nicht“, sagte der Medja. Anderen ins Wort zu fallen, schien eine seiner Gewohnheiten zu sein. „Steige ab und folge mir!“ Er band den Esel vor einer Hütte an einen Baum und schritt rasch davon.
Achtaj verbiss sich eine ärgerliche Bemerkung und tat, wie ihr geheißen. Sie brauchte nicht weit zu laufen. Etwa hundert Ellen Flussaufwärts lag in einem Gebüsch vertäut ein kleines Ruderboot, auf das der Medja wortlos deutete. Beide kletterten hinein, und sie sah zu, wie er die Leinen löste, wobei er stets wachsame Blicke um sich warf, und dann auf den Fluss hinausruderte. Nun, da sie weit vom Frauenhaus entfernt war, schien ihr die Gefahr, die ihr drohte, nicht mehr ganz so groß zu sein. Sie begann zu überlegen, ob sie nicht vielleicht ihr Schicksal wieder selbst in die Hand nehmen sollte. Das bedeutete, sich aus der Befehlsgewalt ihres unfreundlichen Führers? Entführers? zu befreien.
Verstohlen musterte sie ihn. Er schien unter mörderischer Anspannung zu stehen, denn er hielt die Zähne zusammengebissen, und an seinen Schläfen zeichneten sich dunkelblaue Adern ab. Nach wie vor mied er ihren Blick, und sie hatte das Gefühl, er wünschte den Augenblick dringend herbei, da er sie loswürde. Ich erlöse dich bald von meiner Gegenwart, dachte sie voller Ingrimm. Sowie wir am anderen Ufer festgemacht haben, verschwinde ich. Sie konnte sich zum ‚Glücksort’ durchschlagen oder Ameni, ihren sommersprossigen Freund in der Stadtverwaltung, um Hilfe bitten.
Während sie in Gedanken die verschiedenen Fluchtmöglichkeiten durchging, glitt das Boot über den Nil. Ein leichter Wind hatte sich erhoben, und kleine Kräuselwellen tanzten auf der Wasseroberfläche. Die Fähre hatte inzwischen am Ostufer angelegt, die Fahrgäste waren ausgestiegen, und Achtaj strengte sich an, die Menschen zu sehen, die dort darauf warteten, zur Totenstadt ans Westufer zu gelangen. Es dauerte eine Weile, bis ihr bewusst wurde, dass sie sich ständig weiter von der östlichen Anlegestelle entfernten.
„Du ruderst nicht ans Ufer!“ stellte sie fest. „Bitte sage mir, wohin du mich bringst!“
Der Medja gab vor, sie nicht gehört zu haben.
„Wenn du nicht sofort Antwort gibst“, brüllte sie ihn so unvermittelt an, dass er zurückfuhr und das Boot gefährlich zu schaukeln begann, „dann springe ich in den Fluss!“
Der Medja sah sie böse an. „Ist mir wie Wasser“, murrte er. „Spring doch! Dann frage ich mich allerdings, warum ich mein Leben aufs Spiel setzen musste, eine so dumme und undankbare Frau zu retten. Ich bin froh, wenn ich dich nicht mehr sehen muss!“ Er zögerte einen Augenblick, dann zog er die Ruder ein und deutete mit einer Hand über die Schulter. „Dorthin geht es. Ich bringe dich aufs Schiff, dort bist du sicher, wenn dich nicht vorher deine Blödigkeit umbringt.“
Drei Lastkähne lagen am Südhafen von Waset, daneben dümpelten einige Fischerboote an den Molen. Der Großteil der Boote war noch im Dunkeln zum Fangzug aufgebrochen. Welches der Schiffe konnte gemeint sein? Warum sollte sie überhaupt ein Schiff besteigen? Wohin würde man sie bringen? Mit einem Mal fühlte sich Achtaj den Tränen nah. Nedjemet, dachte sie. Wenn du nur wüsstest! Wo magst du sein? Sie war sich inzwischen sicher, dass die Freundin nichts mit dieser so genannten Rettung zu tun hatte. Nedjemet hätte sie niemals so im Ungewissen gelassen!
Der erste Lastkahn war ein altes, verwittertes und wenig Vertrauen erweckend aussehendes Schiff. Es wirkte, als habe es seine letzte Fahrt bereits hinter sich, ein Eindruck, der durch den Umstand verstärkt wurde, dass niemand an der Reling zu sehen war. Es schien vollkommen verlassen zu sein. An seinem Rumpf hing eine arg zerfranste Strickleiter herab.
„Dort ist es!“, sagte der Medja. „Steige hinauf! Das Schiff wird ablegen, sowie du oben bist.“
Achtaj versuchte, ihre Fassungslosigkeit und ihren Ärger zu verbergen. Wer auch immer das alles befohlen hatte, musste ein außergewöhnlich kaltherziger Mensch gewesen sein. Jemanden so ins Ungewisse laufen zu lassen, grenzte an Folter! Erneut regte sich ihr Widerspruchsgeist. „Vielleicht will ich nicht hinauf“, blaffte sie. „Vielleicht …“
„Los, los! Vorwärts!“ Der Mann schaute sie nicht an. Stattdessen spähte er angestrengt über den Fluss. „Sie kommen!“
Achtaj verstummte. Wie ein wildes Tier fiel die Panik sie an. „Wer sind ‚sie’?“ stieß sie hervor. „Wie könnte ich mich wehren, wenn sie mich erreichen?“
Ihr Blick kreuzte sich mit dem des Medja. Der Mann griff hinter sich, wühlte in einer flachen Schachtel unter dem Sitzbrett und streckte ihr endlich ein kleines Messer entgegen. „Nimm das!“ knurrte er. „Und nun beeile dich und verliere keine Zeit!“
Mit fahriger Handbewegung griff sie nach der Strickleiter, verfehlte sie, griff noch einmal. Endlich umfasste sie die Seile fest, schwang sich hoch und kletterte mühsam hinauf. Als sie die Reling überwunden hatte wandte sie sich um. Das Boot und sein Führer waren bereits verschwunden.
„Willkommen auf meinem Schiff“, hörte sie. „Du bist ein hübscher Gast!“ Sie rappelte sich auf, strich ihr Kleid glatt und drehte den Kopf.
Vor ihr stand ein unscheinbarer, gedrungener Mann mittleren Alters. Alles an ihm war breit und grob: der Kopf, der halslos auf fleischigen Schultern ruhte, und sein massiger Leib. Gekleidet war er in zerschlissene Lumpen, die seine Behaarung an Körperstellen zur Geltung brachten, die üblicherweise verhüllt sind. Er grinste übers ganze Gesicht, und Achtaj hatte Mühe, nicht zurückzuweichen, denn in seinem Mund fehlten die Vorderzähne, und durch die Lücke strömte fauliger Geruch.
„Necho heiße ich“, sagte er und rief gleich darauf über die Schulter: „Ablegen!“
Mehrere Burschen, die so bewegungslos an Deck neben der Bootswand gekauert hatten, dass sie bei flüchtigem Blick kaum zu sehen gewesen waren, sprangen auf und eilten zu den Ruderbänken.
Necho stemmte die Hände in die Hüften und musterte Achtaj von Kopf bis Fuß. „Wir werden uns gut verstehen“, nuschelte er, und seine Augen glitzerten. „Sehr gut sogar.“